Steinbeilklinge als Datenträger
Keine andere Methode der Datenkonservierung weist eine so lange Haltbarkeit auf wie Informationen in Stein zu gravieren. Digitale Datenträger können da lang nicht mithalten. Aber was nutzt die Erhaltung der Information, wenn sie der Leser nicht deuten kann? Dafür sind für digitale Daten .xml und Metadaten erfunden worden. Das Interpretieren von in Stein Geritzem bleibt allein dem Leser überlassen.
Hier können Sie Ihre Fähigkeiten testen: Nehmen Sie sich Papier und Bleistift zur Hand und notieren Sie spontan zwei Motive, die Sie in der unten abgebildeten Grafik erkennen. Drehen Sie dabei die Zeichnung jeweils um 90°.
Bei Grafik 2 verfahren Sie gleichermaßen. Da sie einen komplizierteren Aufbau aufweist und aus mehr Linien besteht suchen Sie drei mögliche Motive.
Sicher wollen Sie nun überprüfen, wie gut Ihre Interpretation ist und wie weit Sie an die Lösung herangekommen. Grafik 1 stellt ein Auge dar, nein eine Spirale oder doch ein Schneeglöckchen? Grafik 2 ist eine Kuh, ein Plan, ein Dreieck. Die Lösung ist: unbekannt. Niemand weiß mehr was sie darstellen.
Diese Ritzzeichnungen stammen von der Vorder- bzw. Rückseite einer neolithischen Steinbeilklinge (Abb.1 und 2) aus Schmida, Bezirk Korneuburg in Niederösterreich. Matthäus Much fand sie Ende des 18. Jahrhunderts gemeinsam mit anderen archäologischen Fundgegenständen. Die Fundumstände sind nicht näher bekannt. Wann die Ritzzeichnungen entstanden sind kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Sicher vor 1889, denn da wurde sie bereits im Kunsthistorischen Altlas (Much 1889, 35, Fig. 11a, 11b) abgebildet.
Ritzzeichnungen auf Steinbeilklingen im prähistorischen Kontext stellen eine Ausnahme dar. Die Steinbeilklinge, als Teil eines Gerätes, das wir heute als Hacke bezeichnen, ist schon sehr lange ein bekanntes Fundstück. Am Acker fällt die ansprechende Form sofort als artifizielle ins Auge. Als "Donnerkeil" wurde es von unseren Vorfahren göttlichen Ursprungs betrachtet. Für den Archäologen ist die Steinbeilklinge eine weniger erfreuliche Hinterlassenschaft: Die hauptsächliche Auffindung an der umgeackerten Feldoberfläche und die geringe technische Entwicklung über Jahrtausende lassen kaum detaillierte Aussagen über Gebrauch und Funktion zu. Für die Holzbearbeitung und als Waffe soll es gedient haben, vermutlich ein Allroundwerkzeug. In Pfahlbausiedlungen gehört es zum Standardinventar. In-situ-Funde von Steinbeilklingen in Gräber sind Glücksfälle. Dort wurden sie vornehmlich Männern auf ihren letzten Weg mitgegeben. Ob der tägliche Gebrauch auf Männer beschränkt war, läßt sich nicht nachprüfen.
Bei Betrachtung der Ritzzeichnungen unter dem Mikroskop kann zum Teil eine Abfolge der Entstehung der Linien beobachtet werden. Auch die Ritzrichtung ist ersichtlich sofern die Handhabung eines Ritzgerätes z.B. einer Silexklinge mit der heutigen Nutzung eines solchen verglichen werden kann. War der/die Verfasser/in Rechts- oder Linkshändler/in?
Überprüfen Sie hier das Ergebnis der mikroskopischen Untersuchung und versuchen Sie sich selbst ein Bild zur Entstehung zu machen.
Möglicherweise wurde das Beil ausgeackert und die Gravierungen bei dieser Gelegenheit angebracht, vielleicht als Bannung des "Donnerkeils". Wir wissen es nicht, Technologie und Inhalt der Zeichnungen sind nicht eindeutig. Wir halten die Hinterlassenschaft einer verstorbenen Zivilisation in Händen ohne sie zu verstehen, weil wir das Unbekannte mit unseren bekannten Verhalten und Gegenständen erklären wollen. Ganz genauso ist es den Protagonisten in Stanislaw Lem's "Eden" ergangen, als sie auf die Hinterlassenschaft einer hightech Zivilisation am Planeten Eden trafen. Lant in Larry Niven's und David Gerrold's "Die fliegenden Zauberer" hat andererseits keine Verständigungsprobleme mit der steinzeitlichen Bevölkerung auf dem Planeten seiner Notlandung. Mit Humor werden die Missverständnisse beider Konfliktparteien aufgrund von Unwissenheit des Unbekanntem aufgezeigt.
Viel Spaß beim Rätseln und Forschen!
nestor-Arbeitsgruppe, Wege ins Archiv. Ein Leitfaden für die Informationsübernahme in das digitale Langzeitarchiv.
Matthäus Much, Kunsthistorischer Atlas, K. K. Central-Commission Leitung J. A. Helfert (Hrsg.), Wien 1889.
Stansilaw Lem, Eden, Berlin, Darmstadt, Wien 1985.
Larry Niven, David Gerrold, Der fliegende Zauberer, Heyne Verlag, 1988.